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Stadtleben

Słubice lesen Eine Rezension

Man kann die Geschichte eines Ortes an seinen Menschen und an seinen Straßen ablesen. Die Geschichte der Menschen zu schreiben ist zweifellos schwieriger: sie sind ständig in Bewegung, mal sind es viele, mal wenige, mal kommen sie daher, mal von ganz woanders. Sie fühlen, erleben, schaffen, zerstören, bauen, verlassen, wohnen, arbeiten. Es gibt keine Möglichkeit, all dies zu durchdringen, zu begreifen, gar zu beobachten. Vielleicht haben sich deswegen die Autoren des vorliegenden Bandes darauf beschränkt, uns die Stadt-Vorstadt Słubice-Dammvorstadt durch Beschreibung ihrer Struktur, ihrer Straßen, ihrer Gebäude, ihrer Systeme näher zu bringen. Das solide erforschte und reichlich bebilderte Buch zeigt uns einen Ort ohne Menschen. Es sind lediglich historische Statisten – namenlose Figuren, die uns von den aus Privatarchiven stammenden Photographien anstarren. Was mögen die Soldaten vor dem Gasthaus “Zur Wartburg” gefühlt haben, als sie sich vor dem Eingang zum Photographieren postierten, und hat der Mann auf dem Bild auf Seite 36, der an einem sonnigen Tag auf dem alten jüdischen Friedhof in der damaligen Dammvorstadt photographiert wurde, wirklich gelächelt? Wir wissen es nicht und werden es auch nicht erfahren. Auch erfahren wir nicht, wer nach ihnen kam. Die zahlreichen Neuaufnahmen (Photograph: Jürgen Müller) zeigen uns einen Ort nahezu ohne Menschen, wo das winterliche Sonnenlicht auf verlassene Alleen, Plätze und durch ihre Einsamkeit grotesk wirkenden Alt-, Neu- und Mischbauten fällt. Dennoch “versteht sich der Band als ein Angebot an die heutigen und ehemaligen Bewohner dieser Stadt und an ihre zahlreichen Besucher, über materiell existierende Strukturen und immateriell fixierte Erinnerungen und Wahrnehmungen in einen Dialog zu treten, der Annäherung und Aneignungen fördern kann” (Vorwort, S. 11). Es ist ein Versuch, dem Immateriellen über seinen Ausdruck im Stadtbild, seine “materielle Gewalt” nachzuspüren. Durch den Dialog mit den Dingen, den Dialog der Menschen zu ersetzen. Durch die Rekonstruktion des Faktischen die Widersprüchlichkeit des Erzählten zu kompensieren. Und es ist ein Versuch, dem man gewissen Erfolg nicht absprechen kann. Obwohl das Buch eingangs Słubice etwas generalisierend als einen “Ort mit deutscher Vergangenheit und polnischer Gegenwart” beschreibt, ist das Gesamtbild, welches aus diesem seltsamen Dialog entsteht, alles andere als ein geteiltes. Nicht nur die Tatsache, dass der Band konsequent auf Zweisprachigkeit setzt (wenn auch mit allerlei Schnitzern, vor allem in der polnischen Fassung) und das Gewesene parallel mit dem Vorhandenen zur Schau stellt, zeugt von gewissem Pioniercharakter. Die detaillierte Darstellung der Entstehungsgeschichte eines jeden Objektes der Stadt-Vorstadt, die minutiöse Beschreibung der Baustile, der Fassadengestaltung, der verwendeten Materialien und der Umbauarbeiten fügen sich ein Bild einer Stadt, die ist, wie sie ist, ohne den Anspruch, deutsch-polnische, europäisch, märkisch oder “lebusisch” zu sein. Es ist eine Stadt, wo “man” fünfstöckige Plattenbauten genauso selbstverständlich errichtet, wie Stadtvillen oder Internierungslager. Wo “die ehemals straßenbildprägenden handwerklichen und landwirtschaftlichen Betriebe einer Struktur des Kleinhandels gewichen [sind]” (S. 147). Das Buch ist trotz seiner flapsigen Redaktion und seines streckenweise entmenschlichten Charakters lesenswert. Es zeigt Zusammenhänge, erklärt Entwicklungsstränge und verzichtet größtenteils auf Interpretationen. Das Ergebnis ist keine Stadtgeschichte.

Sebastian Preis, Uta Hengelhaupt u.a.: “Słubice. Historia ­ topografia ­ rozwój. Geschichte ­ Topographie ­ Entwicklung”, Słubice. 2003.