:: Politisches aus Frankfurt (Oder) ::

Stadtleben

Frankfurt Oder Słubice im Sucher – Neun Bilder einer Stadt

Da liegen Frankfurt Oder Słubice! Ihre Lage ist ausgemacht. Der Atlas liegt aufgeschlagen. Flüsse, Küstenlinien, Bergrücken und Ebenen geben sich zu erkennen, Städte und Städtchen ordnen sich ein, Straßen und Schienenwege folgen dem Relief. Alles ist gefügt in Grenzen, gerahmt in Koordinatenkästen: die Ausschnitte sind bemessen, die Orte haben ihren Platz. Ihre Lage ist ausgemacht.

Neun Bilder von Frankfurt Oder Słubice.

Nirgendwo.

Mit nachlassender Kraft röchelt unter einem blau-gelb gestrichenen Brückenbau der verkannte Strom, sucht mit unentschlossenen Strudeln die eingegrabenen Pfeiler zu fassen und mit sich zu reißen, rauscht schließlich geschwächt weiter.
Auf der Brücke stehen Politiker, Journalisten und Künstler. Im Schutz der blauen Bögen unterhalten sie sich über die Konstruktion, heißen sie Symbol, und schließen die Städte an den Ufern gleich mit ein: alles Symbol. Und doch nur die Konstruktion symbolisierend.
Wo sind Frankfurt Oder Słubice? Aufgegangen in den großen Ideen, sind sie zum Begriff geworden: Frankfurt und Słubice sind Überall! Und Nirgendwo.

Anderswo.

Träge schiebt sich die Oder durch ein Schwemmland der Unbekannten. Auf absackenden Buhnen und angespülten Sandbänken sitzen grübelnde Angler und meditieren dem nächsten Fang entgegen. Der in seinen Segnungen und Flüchen ihnen so vertraute Alltag verblasst hinter ihrem Rücken, während ihr Blick das gegenüberliegende Ufer abschreitet. Im nachlassenden Tageslicht schemenhaft bleibend, hängen dort Gestalten über betonverankerten Brüstungen – und erwidern den Blick. Beide, die Angler wie die von der matt gebürsteten Metallbrüstung scheinbar Zurückgehaltenen, blicken auf eine fremd gebliebene Stadt, auf ein fremdes Land, aber auch: auf ein Neuland. Ein Anderswo.

Im Zentrum.

Hier steht alles alleine, entrückt, auf sich bezogen. Solitäre Hochhäuser, stumme Mietshäuser, in Rayons aufgestellte Einzelkämpfer der Nachkriegsarchitektur, Reliquien vergangener Bauepochen, verlorene Altbauensemble. Sie sind Zeugen einer versunkenen Stadt: die Erschütterungen berstender Fensterscheiben, krachender Balken und fallender Ziegel hallen wider an den Fassaden der Neubauten, gemahnen an eine Vergangenheit die stärker nachwirkt in ihrer Abwesenheit.
Und doch sind die Neubauten, alleinstehend, ihr eigenes Zentrum: zugleich Zeuge und Ausdruck einer Bemächtigung des städtischen Raumes. Zwischen ihnen erstreckt sich nicht-acquirierte öffentliche Fläche, eine nicht-unterworfene Wirklichkeit, die die Stadt beläßt mit einer nicht-verdrängbaren Gegenwart. Das Zentrum ist allgegenwärtig.

Von Wegen.

Alte Strassen sind neue Strassen, verlorene Plätze sind gewonnene Plätze. Sie haben ihr Gesicht gewandelt aber ihre Namen behalten, ihre Struktur gewahrt, aber neue Namen bekommen. Eine Karte des Vergangenen und zugleich des Nicht-Vergänglichen.
Die Wiederholung gebiert eine Infrastruktur: ein Netz von Trampelpfaden, Hohlwegen und Transittrassen, das Schneisen in frisch gepflanzte Kopfsteinkulturen reißt und sich über erodierende Asphaltwiesen legt. In der Stadtlandschaft sucht jeder seinen eigenen Weg, folgt Bächen zur Quelle oder Strömen zu ihrem Delta, spürt Fährten nach bis ins Unterholz, nutzt Schleichwege und Abkürzungen, oder er rauscht zügig durch sie hindurch.

Im Fluss.

Die Schlagader versorgt, über die Arterien und bis in die feingliedrigsten Verästelungen der Kapillaren, verlässlich das umliegende Gewebe, und gewährleistet das Funktionieren des Organismus. Der Strom funktioniert nicht, die Schlagader liegt aufgeschlitzt.
Die Strömung pumpt durch die Arteriographie des Flußsystems weiße Blutkörperchen, die sich an der Wunde zusammenschieben und ausschorfen: die Eisschicht trägt indes noch kein Gewicht. Nur in Gedanken können wir über das Wasser gehen.
Das Eis ist gebrochen, die Wunde wieder aufgerissen. Sie musste erneut genäht werden. Eine neue Brücke – ein neuer Stich in der Naht, die alleine die Wunde nicht schließt. Die Überbleibsel der alten Brücke, die Reste der Behelfspfeiler für den Neubau – sie liegen aufgetürmt, durchstochen von Baustahl und gehüllt in den letzten Schnee, als Zeugnisse einer gewaltigen, brachialen Anstrengung. Die gescheiterte Hoffnung, daneben nur eine weitere bridge over troubled waters?

In der Luft.

Silberne Dämmerung am Horizont zeigt die Richtung an, von der aus das Licht den Tag erobern wird. Lichtschwerter reißen den Mantel der Nacht in Fetzen, schlagen immer größere Stücke aus den Schatten. Glühende Lichtkörner schießen durch den gleissenden Nebel – und erkalten, sie fallen als Reifkristalle auf die tauenden Flußauen. Der Angriff ist abgeblasen.
Aus den schmelzenden Schatten der Schornsteine quellen Rinnsale von Rauch über die Schwellen der Gehsteige, sammeln sich in den erwachenden Strassenzügen. In der Andacht der frühen Stunden ist die Luft geschwängert mit dem Duft der Kohleheizungen. Über den Dächern der Stadt zieht eine Wolkenprozession nach Osten, in der Spiegelung einer Glasfassade sucht sie den Weg zurück nach Westen.

Leuchten. In der Nacht.

Über den Hochhäusern beschreibt ein Kondensstreifen die Bahn des fallenden Mondes. In der Stadt erscheint er bedrohlich schwebend – eine Damokleische Kugel gehalten von erwärmter Luft -, gesehen von außerhalb ist er mit seinem Schweif ein leitendes Licht. Am Ende der Autobahn hebt er sich über die Runway fliehender Scheinwerfer und bedeutet einen Ort, an dem Neues beginnt.
Dunkel verschluckt die Schlußlichter des Nachtzugs, der sich entlang der funkelnden Perlenkette aufgefädelter Stadtlichter durch den Kontinent tastet. Der Schaffner kennt die Nachtlandschaft, ein amorphes Gebilde von Licht und Schatten, ein Kosmos verschwenderischer Lichter und gefräßigen Dunkels. Der Zug nimmt seine Fahrt durch schwarze Weiten hin zu den Tunneln aus Licht.

Harmonie. In Zeitlupe.

Das Rauschen der Verkehrsströme vor der Stadt ist verhallt, bevor es die Hinterhöfe erreicht hat. Im Schutz der Mietskasernen und Plattenbauten spielen Kinder, Männer füttern Tauben oder gehen mit Hunden spazieren, auf der Suche nach einem besseren Alibi. In gestreiften und karierten Taschen tragen junge Frauen ihre neuesten Einkaufserrungenschaften nach Hause, ältere liefern in faltigen Plastikbeuteln den Haushaltsabfall bei den in einer stillen Ecke kongregierenden Mülleimern ab. In den Hinterhöfen herrscht eine eigene Geschwindigkeit, die Platten und Mietshäuser stemmen sich als Wehre gegen den erhöhten Geräuschpegel außerhalb. In der rechten Laufgeschwindigkeit verschieben sich die Silhouetten der Stadtarchitektur gegen einander und finden für kurze Augenblicke zu einer Deckungsgleichheit, die Kulissen der Hinterhöfe harmonieren.

Stille. Das Ende des Filmes.

Der Vorhang ist gefallen, eilends verlassen die eigentlichen Protagonisten der Vorführung den Saal. Sie tragen ihre Gedanken mit sich, hinaus in die wandernden Winde, die zur fortgeschrittenen Stunde durch die Gassen pfeifen und ihre Melodie ins weite Land tragen.
Wenige blieben, um der Stille des Abspanns beizuwohnen. Die Reihen sind nun gelichtet, wortlos verfolgen die von der Geschichte sitzen gelassenen, wie sich die Namen der für die Bilderflut Verantwortlichen in die Leinwand einbrennen. Es dauert, bis die Lichter erglommen sind, der Weg zum Ausgang hell erleuchtet ist, und die Letzten den Weg nach draußen finden, wo sich der Sturm schon gelegt hat.
Durch das Fenster blickt der Vorführer nach unten in den Kinosaal. Er räuspert sich, kurz doch mit Nachdruck, setzt seine Kaffeetasse ab, und räumt die Filmrollen zusammen. Der nächste Film muss eingelegt werden.