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Stadtleben

Schweres Gepäck Vom Erbe der Vertriebenen

Natürlich lässt sich die Welt einrichten, schriftlich sogar, dann passt eins zum anderen.” Diese Spitze stammt nicht von dem zu besprechenden Band ­ in ihrer als Beiläufigkeit getarnten Ironie würde sie nicht zu der Ernsthaftigkeit passen, mit der die Autorin sich ihres Themas annimmt. Die Berliner Publizistin Helga Hirsch, die noch vor wenigen Wochen mit einem offenen Brief für Aufsehen sorgte, in dem sie gemeinsam mit Politikern und Persönlichkeiten ihren Verzicht auf familiären Besitz in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße kundtat, nimmt sich mit ihrem neuesten Buch “Schweres Gepäck ­ Flucht und Vertreibung als Lebensthema” eines Gegenstandes an, der dieser Ernsthaftigkeit auch sicherlich bedarf. In Zeiten, in denen es noch immer nicht aus der Mode gekommen zu sein scheint, sich Geschichte gegenseitig aufzurechnen, scheint die Akribie, mit der sie ganz persönliche Geschichten aufspürt, mehr als nur eine lobenswerte Fleißarbeit.

Es ist diese Fleißarbeit ein Unterfangen, dass notwendigerweise an der “Einrichtung der Welt” rüttelt, denn die Geschichten, die Hirsch ähnlich einfühlsam wie zuvor bereits in “Ich habe keine Schuhe nicht” zusammenträgt, wollen sich keinem der Schemata fügen, die auf beiden Seiten des schmalen Grates deutsch-polnischer Verständigung dafür sorgen, dass das eine zum anderen passt. Die Autorin stellt wieder die erlebte Geschichte Einzelner in den Vordergrund, um damit die Kluft zwischen einer unpersönlichen Historiographie und einer gesellschaftlichen ignorierten, individuellen Erinnerungsarbeit anzusprechen und ihre Überwindung anzumahnen. Denn gerade in diesem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher und individueller Fähigkeit zur Vergegenwärtigung und Besinnung wurde ­ so argumentiert Hirsch ­ die Erinnerung oft verheimlicht, verdrängt, verschoben, unterdrückt oder umgelenkt: aus der Erinnerungsarbeit wurde schließlich mehr eine “Vergessensarbeit”, die damit über Generationen das Trauma der Vertreibung als nicht thematisierte Belastung fortwirken ließ, als negatives Vermächtnis, als “schweres Gepäck”. Die daraus abgeleitete These, die Hirsch in die aktuellen Debatten um Vertreibung, Schuld und Erinnerung einbringen will, ist den geschilderten Einzelschicksalen jedoch nicht direkt zu entnehmen, sondern wird in einem angehängten Nachwort verfochten: dass nämlich erst die Aufarbeitung der traumatischen Erfahrung einer jeden fünften deutschen Familie den Weg zu einer Aussöhnung der Deutschen mit dem mitteleuropäischen Osten zu ebnen vermag. Das ist nicht nur eine innerfamiliäre Anstrengung, sondern eine gesamtgesellschaftliche, und zudem auch eine Herausforderung an die Deutschen eben so wie an ihre Nachbarn, nämlich: Ambivalenzen von Schuld und Leid anzuerkennen und sich aktiv und kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Eben dieses hatte auch Johannes Bobrowski im Sinn, als er in seiner ganz eigenen Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte die (moralische, geschichtliche, schriftliche sogar…) Einrichtbarkeit der Welt zur kritischen Disposition stellte.