:: Politisches aus Frankfurt (Oder) ::

Stadtleben

Bahnhof Kunowice – Endstation Polen.

Heute begeben wir uns auf die Reise an einen Ort, an dem scheinbar die Zeit stehen geblieben ist. Kunowice, nur ganze 3 Kilometer von Słubice entfernt, das aber Welten von der Zwillingsstadt Frankfurts trennen. Kunowice hat ehrlich gesagt nicht viel zu bieten. Es war zweimal Ort bedeutender Schlachten; es handelt sich nämlich um jenes Kunersdorf, wo am 12.08.1759 der preußische König Friedrich der Große seine wohl größte militärische Niederlage hinnehmen musste — ein Wunder, dass dadurch der Siebenjährige Krieg nicht verloren wurde — und im Februar 1945, als die vorrückende Rote Armee sich eine bedeutende Panzerschlacht mit der Wehrmacht lieferte, woran bis heute ein als Denkmal aufgestellter sowjetische Panzer erinnert. Die heutige Bedeutung des 530-Einwohner Ortes begründet sich in einem — dem Bahnhof.

Die Station erreicht man, wenn man die Straße Richtung Rzepin nimmt (nach der Ortsausfahrt links), und dann ein paar Kilometer bergauf fahrt, bis zu den ersten Gebäuden in Kunowice. Das Dorf sieht sehr gepflegt aus; überall wird gebaut oder renoviert, die nagelneuen roten Dachziegel glänzen von den Dächern. Das erste Aha!-Erlebnis hat man, wenn rechts der modernistische Bau der Kirche erscheint. Eine Architektur, wie sie Le Corbusier nicht hätte grässlicher machen können — ein eckig-rundes Betonkunstwerk. Folgt man aber weiter der Hauptstraße, der ul. Slubicka, die von Asphalt plötzlich in Pflastersteine wechselt, muss man auf der ersten (und einzigen) Kreuzung nach rechts fahren, wo nach etwa einem Kilometer das Prunkstück des Ortes erscheint: der Bahnhof Kunowice. Die Station an sich verleiht schon von außen betrachtet einen ungeheuer surrealistischen Eindruck. In einem kleinen Ort, kurz vor der Grenze, entstand ein riesiges Gebäude aus Glas und Beton.

Vor dem Krieg war Kunersdorf kein bedeutender Punkt im Streckenplan der Bahnlinien. Aus dem nahen Frankfurt kam man direkt nach Posen und Breslau (heute geht das nicht mehr), und in Reppen (heute: Rzepin) konnte man bequem in den Zug nach Stettin umsteigen. Reppen war der wirkliche Verkehrsknotenpunkt, was Rzepin auch heute ist. Seit aber der Reisende beim Oderübertritt auch eine Staatsgrenze passiert, wurde die letzte Station auf polnischem Terrain ein strategisch wichtiger Punkt auf der Landkarte. Man merkt es dieser verlassenen Station nicht an. Wenn man von Posen aus nach Frankfurt fährt, ist Kunowice ein weiterer kleiner, menschenleerer Halt. Erst wenn der Zug mit lautem Rattern auf die Brücke kommt, weiß man, man ist bereits über der Oder. Die Station ist so unscheinbar, dass Hans-Christian Schmid in seinem an der deutsch-polnischen Grenze spielenden Film “Lichter” in einer in Kunowice beginnenden Episode eine nicht-existierende Lautsprecherdruchsage einführen ließ: “Kunowice. Letzte Station vor der deutsch-polnischen Grenze”.

Je näher man dem Bahnhofsgebäude kommt, desto löchriger wird die Asphaltstraße. Am Ende der Straße, wo die “Pks-y”, die regionalen Busse, ab und zu an der Schleife wenden, ohne einen einzigen Passagier mitgenommen zu haben, steht nur noch die Station. Vor ihr ein paar zerschlagene Sitzbänke aus Beton. Beton dominiert ohnehin die Landschaft: das Gebäude, die Gleise, die Lager, den Weg. Der Bahnhof muss vor einigen Jahren ziemlich bunt gewesen sein, jetzt blättert die blass-orangene Farbe überall ab. Nirgendwo Fahrradständer, aber Fahnenhalter gibt es an der Vorderseite zwei, zu je drei Fahnen — früher wohl Polen, DDR, Sowjetunion, bald wohl Polen, Deutschland, EU. Die Eingangshalle ist leer, die Kasse macht den Eindruck nie geöffnet gewesen zu sein, die Holztafel mit ‚Kleinanzeigen’ enthält zwei gleiche Angebote: “Verkaufe Wohnung in Torzym”, und der Fahrplan zeigt die Tristesse an: drei Zuge täglich nach Frankfurt, drei nach Rzepin, davon einer weiter nach Poznan. Der Fahrplan ist aktuell — eines der wenigen Zeichen, dass auch hier die Zeit weiter geht. Ein merkwürdiger Geruch herrscht im Raum. Ist das Weihrauch? Nein, der Bauer nebenan verbrennt ein paar Äste. Schaut man sich den Boden ringsherum an, scheint hier auch etwas anderes gebrannt zu haben. Das Gebäude hat zwei Stockwerke; ganz oben Büros, im ersten Stock ein ehemaliges Restaurant. Darin auf einmal Menschen. Im Restaurantsaal sitzen auf Gartenstühlen aus Plaste um die zwanzig Männer und Frauen, ziemlich offiziell gekleidet und hören dem Redner zu. Gleich auf den Parkplatz hinter dem Haus geschaut — es stehen einige Autos herum, die Kennzeichen deuten auf Besucher aus Zielona Góra, Słubice, sogar Warschau und … Oldenburg. Wird hier etwa geheim die neue ICE-Strecke Rzepin-Oldenburg geplant? Gleich fragt man sich aber: wer um Gottes Willen würde hier offizielle Gespräche durchführen? Einzige Alternative: es sind Geister aus sozialistischer Zeit und es handelt sich um ein Freundschaftstreffens der Delegationen aus DDR und VR Polen. Oder man ist in ein Zeitloch gefallen. Eigentlich deutet nichts auf das Jahr 2003. Oder doch — jetzt bemerke ich den Aufkleber mit den zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund: “Die Modernisierung der Bahnlinie E20, Abschnitt Rzepin-Staatsgrenze wird gefördert aus Mitteln des ISPA-Programms”.

Auf dem Gleis, zu dem man durch eine unterirdischen Gang gelangt, ein weiteres Indiz für die Gegenwart: die Uhren zeigen die richtige Zeit an. 13:25, vor 10 Minuten war gerade einer der wenigen Regionalzüge, die auch Halt in Kunowice machen, hier. Keine Passagiere, nicht einmal Grenzschutzsoldaten, nur eine einsame Lok, mit dem Lokführer, der erstaunt den einsamen Touristen anguckt. Auf dem Gleis ein überdachter Warteraum, mit einem rustikalen bahninternen Telefon. Im Hörer Stille, dann doch ein einsamer Piepton. Vom Gleis aus betrachtet, macht das Bahnhofsgebäude einen noch erdrückenderen Eindruck. An der Außenwand zerschlagene Wespenneste, hie und da leuchten Lampen in den Büroräumen. Wer baut so etwas im Nirgendwo? Offensichtlich hatte man große Pläne, darauf deuten auch die unweit errichtete Tankstelle und ein namenloses Hotel, vom Baustil her zu urteilen ähnliche Jahrgänge. Wie bei so vielem in dieser Zeit hat man sich überschätzt. Dann sehe ich die an der zu den Gleisen zugewandten Granittafel die Erklärung: “10.000 Kilometer elektrifizierter Bahnlinien in Polen. Rzepin-Kunowice 28 Maja 1988 r.”. Der Festakt muss groß gewesen sein an diesem, wahrscheinlich warmen und sonnigen Montag, ein Jahr bevor der Sozialismus zusammen brach. Es war ein Prestigeobjekt vor allem der lokalen Parteivertreter. Vielleicht war ja der Wojewode höchstpersönlich anwesend, oder zumindest höhere Vertreter der Armee?

Lange wird Kunowice nicht mehr “Endstation Polen” bleiben. In Słubice hat man die seit 1945 immer wieder aufgebrachte Idee, endlich eine eigene Haltestelle für Züge zu bauen, aufgegriffen, und es wird schon eifrig gebaut. Werden dann in Kunowice die letzten Lichter ausgehen? Schnell wieder auf die Hauptstrasse zurück und Richtung Słubice. Schon am Ortsausgang sieht man die im Nebel versunkenen Umrisse der Hochhäuser Frankfurts? Słubices?